Penaltyschiessen - Wenn der Fussball zur Kopfsache wird

„In diesem Moment ist alles still. Du hörst nur deinen Atem. Elf Meter. Ein Ball. Ein Gedanke: ‘Triff jetzt.’ Doch was passiert in deinem Kopf?“

Wir alle kennen diese Szenen. WM-Finale 2022. Champions League. Ein einziger Schuss entscheidet über Sieg oder Niederlage. Es scheint eine technische Aufgabe zu sein – Schusstechnik, Routine, Zielgenauigkeit. Aber aus psychologischer Sicht ist es viel mehr: eine mentale Prüfung unter maximalem Druck.

1. Warum Elfmeterschüsse so besonders sind

Elfmeterschüsse sind ein psychologisches Paradoxon: Eine der simpelsten Spielsituationen – aber eine der psychisch komplexesten. Kein Gegner, keine Bewegung – nur du, der Ball und der Torwart. Warum ist das so schwer?

Die Antwort liefert uns die Theorie des „Choking under pressure“ von Sian Beilock (2010). Sie beschreibt, wie Leistungsdruck dazu führt, dass Athlet:innen beginnen, bewusst über Automatismen nachzudenken – was die Leistung stört. Besonders bei hochautomatisierten Bewegungen (wie einem Elfmeter) ist das kontraproduktiv.

2. Intuition vs. Überdenken

Ein grossartiger Spieler hat einen Plan – aber auch eine starke Intuition. Was passiert in der Entscheidung zwischen:

  • „Ich zieh einfach durch.“

  • oder: Warte, was macht der Torwart? Vielleicht doch links? Oder lieber sicher in die Mitte?

Geir Jordet, Sportpsychologe und einer der führenden Forscher zu Elfmetersituationen, hat in Analysen von grossen Turnieren festgestellt: Spieler, die während des Anlaufs zögern oder spontan die Richtung ändern, verschiessen häufiger.
→ Seine Forschung zeigt: Erfolg kommt nicht von Spontanität, sondern von mentaler Klarheit und früh getroffenen Entscheidungen.

3. Der Faktor Zeit

Jordet hat auch untersucht, wie sich die Zeit zwischen dem Pfiff des Schiedsrichters und dem Schuss auf die Trefferquote auswirkt:

  • Wer direkt anläuft, trifft häufiger.

  • Wer wartet, hat ein höheres Risiko zu scheitern.

Das lässt sich durch das Attentional Style“-Modell von Robert Nideffer (1993) erklären. Es unterscheidet zwischen interner/externer und breiter/enger Aufmerksamkeit. Im Elfmeter brauchen wir eine enge externe Fokussierung – auf den Ball und das Ziel. Warten fördert dagegen eine breite, interne Fokussierung – also Selbstzweifel und Grübeleien.

4. Die Rolle des Torhüter – der Psychospieler

Auch der Goalie ist kein neutraler Beobachter, sondern aktiver psychologischer Einflussfaktor.
Jordets Forschung zeigt:

  • Torhüter, die auf der Linie tanzen oder den Schützen anstarren, erhöhen den psychischen Druck.

  • Auch die Körpersprache hat Wirkung: Ein aufrecht und präsent wirkender Goalie wird als schwerer bezwingbar eingeschätzt – das nennt man „perceived goal coverage“.

5. Was lernen wir daraus?

Elfmeterschüsse sind keine Lotterie – sie sind trainierbare mentale Performances.

  • Mentales Training erhöht die Zielklarheit.

  • Routinen fördern die emotionale Stabilität.

  • Vorstellungskraft (Imagery) verbessert die Handlungssicherheit.

6. Mentale Vorbereitung statt Hoffnung

In meinen Coachings mit Athlet:innen ist eines zentral: „Stelle dir die Entscheidung vor, bevor du sie treffen musst.“
Dazu nutze ich Methoden wie:

  • Imagery nach Holmes & Collins (2001): Dieses Modell betont, wie wichtig es ist, alle Sinneskanäle (z.B. Sehen, Fühlen, Hören) beim mentalen Training zu nutzen, um das Gehirn möglichst realitätsnah auf die Drucksituation vorzubereiten.

  • Selbstgespräche nach Hardy et al. (2009): Sie unterscheiden zwischen instruktiven („schau auf den Ball“) und motivationsfördernden („du schaffst das“) Selbstinstruktionen – und zeigen, dass gezielte Selbstgespräche die Leistung in Hochdrucksituationen stabilisieren können.

  • Atem- und Arousalregulation: Atemtechniken helfen dabei, den Erregungszustand zu regulieren – entscheidend, um zwischen Unter- und Überaktivierung die optimale Spannung zu finden.

Fazit:

Elfmeterschüsse sind kein Glücksspiel. Sie sind ein mentaler Showdown.
Wer vorbereitet ist – mental, emotional, strategisch – wird nicht von der Situation überrascht, sondern wächst mit ihr.

Denn: „Im Moment der Entscheidung bist du allein – aber dein Kopf muss dein stärkster Mitspieler sein.“

Verwendete Quellen

Beilock, S. (2010): Choke: What the Secrets of the Brain Reveal About Getting It Right When You Have To. – Theorie des „Versagens unter Druck“, besonders bei automatisierten Aufgaben.

Jordet, G. (diverse Studien, z.B. 2009, 2013): Forschung zu Verhaltensmustern und Erfolgsfaktoren bei Elfmeterschüssen.

Nideffer, R. (1993): Attentional and Interpersonal Style Inventory (TAIS) – Modell zur Einteilung von Aufmerksamkeitsstilen, besonders relevant bei sportlichen Höchstleistungen.

Holmes, P. & Collins, D. (2001): The PETTLEP approach to motor imagery: A functional equivalence model for sport psychologists. – Ansatz für effektives Vorstellungstraining.

Hardy, J., Oliver, E., & Tod, D. (2009): A framework for the study and application of self-talk in sport. – Überblick über Wirkung und Anwendung von Selbstgesprächen im Leistungssport.

Jordet, G. (2009): When superstars flop: Public status and choking under pressure in international soccer penalty shootouts, Journal of Applied Sport Psychology.

Dieser Beitrag ist Artikel Nr. 5 der Blogreihe MentALLab, in der ich regelmässig wissenschaftliche Studien aus Sportpsychologie und Coaching aufarbeite.
Mein Ziel: komplexe Erkenntnisse verständlich machen – und Impulse für die Praxis geben.

Willkommen im MentALLab - hier beginnt das Spiel vor dem Anpfiff.

Zurück
Zurück

Reset-Strategien

Weiter
Weiter

Fokus, dann wenn’s zählt: Wie du deine Aufmerksamkeit im Spiel gezielt steuerst.